Im August 2021 hatten das Netzwerk »Stadt für Alle« zusammen mit dem Verbundprojekt »UrbaneProduktion.Ruhr«, dass durch das Institut Arbeit und Technik vertreten wurde, zum Stadtrundgang durch die Bochumer Innenstadt eingeladen. Der Rundgang fand im Rahmen des Hood Up–Festivals (Festival für utopische Stadtentwicklung) statt. Im Mittelpunkt stand die Frage welche Ideen aus der »Neuen Leipzig-Charta« in Bochums Innenstadt umgesetzt werden könnten.
Herausforderungen
Die Bochumer Innenstadt hat ihre Einkaufsfunktion nicht erst seit Corona verloren. Schon vorher waren viele Leerstände zu beklagen, weil mit den Innenstädten von Essen oder Dortmund sowie dem Ruhrpark attraktive Alternativen bestehen. Besonderheiten sind zudem die geringe Anzahl historischer Gebäude und anziehender Plätze in Folge der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und dem darauffolgenden schnellen Wiederaufbau. Als ehemalige Autoproduktionsstadt scheint Bochum stärker als vergleichbare Städte durch Autoverkehr geprägt. Die Innenstadt ist aber auch durch fragwürdige Fehlentscheidungen wie den Abriss des baulich interessanten Schwimmbads aus den 1950er Jahren geprägt. Heute ist dort eine „Betonwüste“ vorzufinden. Grün fehlt fast überall in der Innenstadt. Nur der Appolonia-Pfaus-Park bietet in der Nähe des Technischen Rathauses Raum für Erholung, sowie einen Kinderspielplatz. Ausgedehnte Grünflächen existieren aber mit dem Stadtpark und dem Westpark jenseits des breiten Autorings in der Nähe der Innenstadt. Diese sind bisher aber wegen des breiten und vielbefahrenen Autorings und einer Bahnstrecke ohne Übergang schlecht zu erreichen.
Chancen
Als Chancen der Bochumer Innenstadt sehen wir, dass in Bochum im Vergleich zu anderen Städten auch noch viel bezahlbarer Wohnraum in der Innenstadt vorhanden ist und dadurch gemischte Stadtquartiere bestehen. Zudem wurde durch den Umzug des Hauptbahnhofs um 600 Meter nach Nordosten in den 1950er Jahren ein ehemals zentraler Ort der Innenstadt frei. Seit den 1970er Jahren wird dieser wiederbelebt und beherbergt heute das größte Kneipenviertel des Ruhrgebiets: das Bermudadreieck. Dieses lockt in Nicht-Pandemie-Zeiten viele Besucherinnen und Besucher aus dem Ruhrgebiet in die Bochumer Innenstadt. Auch das neu gebaute Anneliese Brost Musikforum Ruhr, dass die ehemalige St.-Marien-Kirche als Foyer nutzt, lockt Menschen in die Stadt.
Angestoßene Entwicklungen
Die Bochumer Politik hat vor diesen Hintergründen beschlossen, für die Innenstadt – wegen der eingrenzenden Bahnstrecken auch Gleisdreieck genannt – ein integriertes städtebauliches Entwicklungskonzept (ISEK) aufzulegen, das mit Maßnahmen unterfüttert ist. Deren Umsetzung hat im Jahr 2020 begonnen. Parallel und z.T. auch integriert in das ISEK finden große Neubaumaßnahmen statt. Auf dem Gelände des ehemaligen Justizzentrums wird derzeit ein mischgenutztes Gebäude aus Einkaufszentrum und Stadtverwaltung erstellt. Aus der ehemaligen Hauptpost wird bis 2026 eine überdachte Markthalle und das „Haus des Wissens“, das Stadtbibliothek und Volkshochschule beheimaten wird. Umfangreiche Umzüge werden daher stattfinden. Anschließend sind Abrisse von Verwaltungsgebäuden mit Wohnungsneubauten angedacht.
Die neue »Leipzig-Charta«
Der Stadtrundgang „Die »Neue Leipzig-Charta«: Welche Ideen daraus können in Bochums Innenstadt umgesetzt werden?“ machte auf einige dieser Orte aufmerksam und stellte Fragen zu weiteren Entwicklungsmöglichkeiten. Wo können lebenswerte Plätze, bezahlbare Wohnungen für Alle, grüne Oasen oder neue Werkstätten entstehen?
Der öffentlichen Einladung zum Stadtrundgang folgten 20 Personen aus Politik, Verwaltung sowie Stadtplaner:innen, engagierte Menschen aus Initiativen und interessierte Bürger:innen. Begonnen wurde der Rundgang an der VHS bzw. Stadtbibliothek, deren Gebäude nach Umzug ins „Haus des Wissens“ abgerissen werden soll. Hier wurden die Kernelemente der Neuen Leipzig-Charta vorgestellt. Nach Einschätzung der Veranstalter:innen gibt die »Neue Leipzig Charta« wichtige und nutzbare Impulse, von gemeinwohlorientierter Stadtentwicklung, über vielfältige Wohnformen, zur klimafreundlichen Gestaltung, und vermehrter Bürger:innen-Beteiligung, aber auch zu vermehrter Nutzungsmischung inklusive verstärkter Ansiedlung von Produktion und Reparaturbetrieben in den Städten. Damit geht die »Neue Leipzig-Charta« auf den Klimawandel, den Verlust von Biodiversität, Ressourcenknappheit, Migration, den demographischen Wandel, Pandemien und die Veränderung der Wirtschaft ein. Außerdem werden verschiedene räumliche Ebenen adressiert vom Quartier, über die Gesamtstadt zu funktional zusammenhängenden Räumen und die Kooperation gefordert. Als konkrete Umsetzungsanregungen werden in der »Neuen Leipzig-Charta« drei Dimensionen für die Stadt der Zukunft vorgeschlagen: die produktive, die grüne und die gerechte Stadt. Anhand dieser drei Dimensionen gliederte sich der weitere Rundgang.
Kortumstraße
Als erster Stopp wurde die durch Leerstände geprägte Einkaufsstraße Bochums aufgesucht und das Konzept der produktiven Stadt vorgestellt. Urbane Produktion ist Teil der produktiven Stadt. Sie umnfasst sowohl Industriebetriebe, wie bspw. den nahegelegenen Bochumer Verein Verkehrstechnik oder die Moritz Fiege Brauerei, sowie Handwerk und Reparaturbetriebe, wie Änderungsschneidereien oder Klempner, als auch städtische Landwirtschaft, wie Dachgärten oder Pilzzucht in Kellern. Die Wirtschaftsförderung Bochum hat eine Broschüre zur „FabTown“ herausgegeben, in der die noch bestehenden Produktionsbetriebe in der Bochumer Innenstadt kartiert sind. Hier werden auch junge Unternehmen vorgestellt, die aktuell im Rahmen des Programms „Tapetenwechsel“, mit der das Stadt Marketing Zwischennutzungen von Leerständen ermöglicht, Ladenlokale nutzen. In der Vergangenheit wurde Produktion häufig aus der Stadt oder sogar noch weiter in den Globalen Süden verlagert und damit auch die negativen Umweltauswirkungen. Um dem Klimawandel und der Ressourcenknappheit zu begegnen, kann lokale Produktion einen Beitrag leisten. Grundsätzlich muss jedoch auch das Konsumverhalten überdacht werden. Es sollten nicht nur weniger Dinge produziert und gekauft werden sondern auch Produkte die reparierbar und nachhaltig sind.
Bongardboulevard
Ein weiterer Punkt des Rundgangs war der Bongardboulevard, bei dem die grüne Stadt diskutiert werden sollte. Hier ist in der Vergangenheit unseres Erachtens viel schiefgelaufen. Das Bochumer Innenstadtschwimmbad wurde Ende der 1990er Jahre abgerissen. Das Ersatzschwimmbad wurde nach den zehn Jahren Vertragslaufzeit geschlossen. Der Neubau ist immer wieder durch Leerstände geprägt und wird heute vor allem von der Ruhr-Universität genutzt. Davor erstreckt sich die Bongardstraße, die zu einer Art Boulevard umgebaut werden sollte. Vorzufinden ist heute eher ein großer Betonplatz mit dank der hohen Bebauung „Windkanal“-Effekten. Hier fahren nur Busse und Räder. Die Straße wirkt für den fließenden Verkehr überdimensioniert. Die Teilnehmer:innen wurden nach Ideen gefragt und es waren sich alle einig: hier müsste mehr urbanes Grün und Aufenthaltsqualität entstehen! Ein weiterer Lösungsansatz könnte die Nutzung kleinerer Busse sein, die sowohl Fußgänger:innen als auch Radfahrer:innen nicht so einschüchtern. Eine Idee der Teilnehmer:innen, den derzeit geplanten Radschnellweg Ruhr zukünftig hier durchlaufen zu lassen, scheint aus Sicherheitsgründen nicht umsetzbar, so eine Rückmeldung eines ebenfalls teilnehmenden Ratsmitglieds.
Ehemaliges Hauptpostgebäude (Telekomblock)
Als nächstes hielt der Rundgang am ehemaligen Hauptpostgebäude gegenüber des Rathauses an, um das Thema der gerechten Stadt zu diskutieren. Dort ist mit dem „Haus des Wissens“ mit inkludierter Markthalle, Stadtbibliothek und VHS ein spannendes Projekt geplant. Die Planung läuft. Teilnehmer:innen äußerten hier den Wunsch nach vielfältiger Nutzung – an diesem Ort sollte nicht nur Platz für hochpreisiges Einkaufen etabliert werden. Wie können sich Markhalle und Bibliothek ergänzen? Wird es ein „Dritter Ort“ und wer entscheidet über die Nutzung?
Appolonia-Pfaus-Park
Der vorletzte Ort war der Appolonia-Pfaus-Park, wo aktuell ein großes Umbauprojekt geplant wird. Zuerst waren hier nach dem Abriss der VHS/Stadtbibliothek (BVZ) sowie des Gebäudes der Musikschule eine Privatisierung der Grundstücke und Wohnbebauung durch einen privaten Investor geplant. Nun aber soll das Gelände nach Aussage des Oberbürgermeisters per Erbbaurecht vergeben werden. Die gut erhaltene Musikschule soll möglichst nicht abgerissen werden. Die Initiative „Zukunftsmusik“ aus Kulturschaffenden, Architekt:innen, Stadtplaner:innen und engagierten Bürger:innen bemüht sich seit einiger Zeit um eine gemeinwohlorientierte Nutzung. Erhofft wird sich dadurch, die Anwohner:innen mitzunehmen und Wohnen für Alle zu ermöglichen. Interessant ist der Stil des Brutalismus des BVZ-Gebäudes, der manche schon zum Erhalt des Gebäudes bewegt. Der Entwicklungsprozess kann nach Ansicht der Teilnehmenden sehr spannend werden.
KoFabrik
Den Abschluss bildete die KoFabrik, die bereits ein spannendes Projekt für alle Anwohner:innen ist. Hier wirkt das Initialkapital der Stiftung Montag Urbane Räume. Mit Nachbarschaftsbeteiligung entwickelt sich der Ort, der später Geld zurück in den Stadtteil fließen lassen soll und für vielfältige Nutzungen offen ist. Aktuell befinden sich Ateliers, Büros, ein Coworkings-Space und ein Café im Gebäude. Die Mieter:innen verpflichten sich, pro Quadratmeter Mietfläche pro Jahr eine Stunde ehrenamtliche Leistung fürs Quartier zu erbringen. „Das kann eine Öffentliche Veranstaltung für den Stadtteil sein oder das Erstellen von Flyern für ein Gemeinschaftsprojekt“ erklärt Matthias Köllmann, der für Gemeinwohlprojekte bei der KoFabrik angestellt ist. Kürzlich hat auch die Quartiershalle geöffnet, in der auch ein Buchladen integriert ist. Die Quartiershalle kann für Veranstaltungen und als offener Raum zur Verfügung stehen. Dazu wurde ein Verein gegründet, der sich um die Raumnutzung kümmert.